Masslosigkeit

 
Wissenschaft ist eine wunderbare Kraft, aber sie ist keine Quelle der Moral. Sie kann die Maschine perfektionieren, aber sie gibt keine moralische Zügel vor, um die Gesellschaft vor dem Missbrauch der Maschine zu schützen.
— William Jennings Bryan

Es ist normal, dass wir auf die Umstände unserer eigenen Leben und Lebensspanne achten. Deshalb bemerken wir vor allem die Besonderheiten der Technologien und ihrer Entwicklung, welche unsere eigenen Lebensumstände und Lebenszeit betreffen. Aber zusätzlich zu diesen Besonderheiten entwickeln sich grundlegende Dynamiken unter unserem gemeinsamen Radar und bedrohen die menschliche Erfahrung an sich.

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte haben wir eine grosse Vielfalt an bestechenden Vorteilen durch unsere Technologien gewonnen. Diese Vorteile stärken einen Glauben an Technologie als Universalmittel. Es scheint zunehmend selbstverständlich, dass wir immer mehr unserer Zeit, Energie und Aufmerksamkeit auf technologische Effizienz und Funktionalität richten sollen, um unsere Ziele zu erreichen und unsere Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.

Etwas Eiscreme oder ein Glas Bier oder Wein zu geniessen kann toll sein. Liebenswürdig zu sein hat viele Vorteile, wie auch regelmässig Sport zu treiben. Wir wissen hingegen, dass gewohnheitsmässig zu viele Süssigkeiten oder zu viel Alkohol zu konsumieren, nie "nein" sagen können und ständig seinen Körper überanstrengen sich sehr wahrscheinlich negativ auswirken wird. Diese Einsichten sind Allgemeinwissen. Wir betonen die wichtige Idee der Ausgewogenheit durch Redensarten wie "alles in Massen".

 
Es ist auf eine entsetzliche Art offensichtlich geworden, dass unsere Technologie unsere Menschlichkeit überholt hat.
— Albert Einstein

Aber hinsichtlich technologischer Entwicklung – dem Schlüsselbereich menschlichen Strebens in unserer Zeit – ist ein eklatanter Mangel an Mässigung festzustellen.

Aldous Huxley hat einmal bemerkt, dass " ... in einer Zeit fortgeschrittener Technologie, Ineffizienz die Sünde gegen den Heiligen Geist ist." Ist unsere Technologie-Kultur eine Religion geworden? Sind wir – auf persönlicher und auf gesellschaftlicher Ebene – noch fähig und willens in Frage zu stellen wie schnell und gründlich wir Technologie in unsere menschlichen Umstände einfliessen lassen? Oder ist es "sündhaft" geworden den zentralen Glauben unserer Kultur zu bezweifeln, welcher simplifizierend technologische Entwicklung mit Vorteilhaftigkeit gleichsetzt?

- - -

Soll Freiheit und Vielfalt Teil der menschlichen Erfahrung sein?

 
Wissenschaft und Technologie würden gebraucht wie wenn, gleich dem Sabbat, sie für den Menschen gemacht wären, und nicht so, dass sich der Mensch an sie anpassen und versklaven würde.
— Aldous Huxley

Die Vielfalt unserer Werte und Überzeugungen, unserer künstlerischen, sozialen oder spirituellen Aspekte, unsere Fähigkeit zu Beurteilen und Entscheidungen zu treffen und unser Sinn für Freiheit sind definierende Aspekte menschlicher Existenz. Sie machen unser Leben abwechslungsreich und bedeutungsvoll.

Diese Facetten menschlicher Existenz müssen ausgelebt werden. Das heisst sie brauchen unsere Zeit und Aufmerksamkeit. Je mehr aber uns Technologie in ihre Realitäten absorbiert, je mehr wird unsere Zeit und Aufmerksamkeit von diesen technologischen Realitäten beansprucht. So sind wir immer weniger verfügbar für alles was nicht Technologie ist.

Falls wir es zulassen, dass die technologische Entwicklung* alles umfassend und alles dominierend wird, werden wir den erstaunlichen Kern unseres Wesens auflösen: die Seele unserer Spezies. Sollen wir grundsätzliche menschliche Aspekte – wie unsere sozialen, kulturellen oder spirituellen – für uns und zukünftige Generationen schützen?

Falls die Antwort ja ist, müssen wir Technologie viel selektiver erfinden und anwenden. Und wir müssen ihre Evolution verlangsamen. Dies zu tun sind Voraussetzungen für Lenkbarkeit. Es ermöglicht uns Technologie in unsere jeweiligen Kulturen einzubetten und verhindert, dass wir uns von Technologie versklaven lassen.

- - -

Die Herausforderung unserer Spezies

 
Falls zukünftige Generationen sich an uns mit Dankbarkeit statt mit Verachtung erinnern sollen, müssen wir ihnen mehr als die Wunder der Technologie hinterlassen. Wir müssen ihnen einen Blick auf die Welt belassen wie diese zu Beginn war, nicht nur als wir mit ihr fertig wurden.
— Präsident Lyndon Johnson

Ohne die stets wachsende Wichtigkeit der Technologie in menschlichen Umständen einzuschränken wird es keinen Platz für Werte und Überzeugungen, für Vielfalt und Freiheit geben. Je mehr wir es zulassen, dass die Eigenlogik technologischer Entwicklung sich etabliert, je mehr wird diese Logik alles beiseite drängen was nicht es selbst ist.

Warum sollten wir auf Entwicklungen achten, die so viel grösser sind als unsere eigenen Leben und Lebenszeiten? Es gibt keinen objektiven Wert in der Fortsetzung der menschlichen Erfahrung. Ob es diese Erfahrung weiterhin gibt ist nur dann von Bedeutung, falls wir uns für diese Bedeutung entscheiden.

Unsere Sicht auf Technologie zu verändern und wie wir technologische Entwicklung vorantreiben ist zur grössten evolutionären Herausforderung für die Menschheit geworden. Dieser riesigen Herausforderung gerecht zu werden wäre die grösste Errungenschaft unserer Spezies. Es wäre ein ausserordentlicher Triumph von Einsicht über Instinkt – dem einzigartigen Lebewesen würdig, als das wir uns selbst anschauen.

* Z.B.: Künstliche Intelligenz (KI), Gentechnik (GVO), Robotik, Rüstungstechnologie, Biotechnologie, Materialwissenschaften, Information & Kommunikations Technologie, Nanotechnologie, Medizinaltechnologie, Agrartechnologie, Pharmazeutik, etc.,